Interview mit Marie Hermann zum Feminismus in Frankreich: „Sehr wenig konkrete Fortschritte“

Präsidentschaftswahl 2022

Die Verlegerin Marie Hermann beobachtet die Entwicklungen des Feminismus in Frankreich seit Jahren. Durch die Pandemie und den aktuellen Rechtsruck seien viele Fortschritte in Gefahr.

Foto Marie Herrmann

Romy Straßenburg: Die letzten Jahren waren für den Feminismus sehr bewegende. Einerseits gab es große Fortschritte, zum Beispiel durch die #metoo Bewegung. Andererseits hatte man gerade im Zuge der Pandemie den Eindruck, es gab auch Rückschritte. Wie ist ihre Bilanz, was den Stand des Feminismus in den letzten Jahren angeht?

Marie Hermann: Ganz sicher hat das Wort Feminismus sich wieder einen Platz erobert. Es wurde wieder ein Bewusstsein für seine Anliegen geschärft, es wurden Stimmen laut und auch an Schulen wurde das Thema Gleichberechtigung der Geschlechter verstärkt vermittelt. Dennoch lassen sich bei der Politik nur sehr wenige konkrete Fortschritte feststellen. Beim Schutz von Frauen vor sexueller und sexualisierter Gewalt oder bei der ungleichen Bezahlung stehen wir noch am gleichen Punkt. Ebenso wenig passiert ist bei den Fragen nach einem ernstzunehmenden Elternschaftsurlaub. Noch immer gibt es außerdem viel Gewalt im Kontext gynäkologischer Behandlungen. Noch immer kann man als Frau nur schwer Anzeige erstatten, wie kürzlich die Bewegung #doublepeine (dt. Doppelte Strafe s. unten) gezeigt hat. Auch gegen Übergriffe im Internet wurde wenig bis nichts getan. Die Pandemie hat - wie alle Krisen - zuallererst Frauen getroffen, deren Zeit für Hausarbeit immens gestiegen ist und die zudem in vielen Berufsgruppen zu finden sind, die dem Virus an vorderster Front ausgesetzt waren, und die schließlich auch von Prekarität und steigender Arbeitslosigkeit betroffen sind, so wie Kassiererinnen, Krankenschwestern, Lehrerinnen, Putzkräfte usw.

 

R.S.: Emmanuel Macron wollte die Gleichberechtigung zu einem der großen Themen seiner ersten Amtszeit machen? War davon etwas zu spüren?

M.H.: Die Empfängnisverhütung ist für Frauen bis zum Alter von 26 Jahren völlig kostenlos geworden, gegenüber bisher nur 18 Jahren; die Abtreibungsfrist hat sich von 12 auf 14 Wochen verlängert, das war ein harter Kampf, und der Präsident hat einige Monate vor der Präsidentschaftswahl von Endometriose als ernstzunehmender Krankheit gesprochen. Natürlich sind diese Maßnahmen wichtig, aber sie sind weit von dem entfernt, was alles notwendig ist, und was wir von einer Regierung erwarten dürfen, die mit solch großen Ankündigungen angetreten ist. Erst recht, wenn wir die Zahl an Frauenorganisationen anschauen, deren Budgets gekürzt wurden.

Aber wenn in einer Regierung der Innenminister der Vergewaltigung beschuldigt wird, wenn er zugibt, seine Macht missbraucht zu haben, um eine sexuelle Beziehung zu erzwingen, und die einzige Antwort des Präsidenten lautet, er würde mit ihm von „Mann zu Mann sprechen" und ihm weiter sein Vertrauen zu schenken, dann ist alles gesagt.

 

R.S.: Wo sehen Sie Frankreich bei den Frauenrechten und was müssten die Prioritäten der zukünftigen Regierung sein?

M.H.: Wenn wir Frankreich mit anderen Ländern Europas vergleichen, steht das Land schlechter da als der Durchschnitt. Das betrifft die Ungleichheit bei den Gehältern:  16, 7 % Gehaltsunterschied in Frankreich, europaweit sind es 15,3. In dieser Zahl spiegelt sich allerdings immer noch nicht die Ungleichheit durch Teilzeitarbeit, durch die Höhe des Arbeitslosengeldes, des Erbes oder der Rente wider.

Spanien hat zum Beispiel auch viel Vorsprung im Kampf gegen Femizide. Spaniens Methoden wären in Frankreich auch anzuwenden. In Frankreich leiden wir noch immer an einem gestörten Verhältnis zur „Verführung“, die als eine Art lokale Tradition verstanden wird. So fühlen sich Männer noch immer berechtigt, Frauen wie Beute, wie Dekorationsobjekte, zu behandeln. Viele Verhaltensweisen haben damit zu tun. Die Tatsache, Frauen nicht ernst zu nehmen, Belästigungen am Arbeitsplatz, etc. Für mich besteht die absolute Priorität darin, gegen sexuelle und sexualisierte Gewalt vorzugehen. Es ist unerträglich, dass noch immer so viele Personen angegriffen, vergewaltigt und getötet werden, weil sie Frauen sind oder als Frauen wahrgenommen werden. Da muss man gar nicht herumrätseln: Worte reichen hier nicht, es braucht finanzielle Mittel.

 

R.S.: Wenn man sich den Rechtsruck in Frankreich anschaut, der jetzt schon im Wahlkampf abzulesen ist, hat dieser auch Einfluss auf die Rolle von Frauen? Haben Sie da Befürchtungen?

M.H.: Absolut, auch wenn die extreme Rechte sehr schlau damit umgeht und ihr politisches Wording der Entwicklung in der Gleichstellungspolitik angepasst hat. Sie hat sich auch ein anderes Gesicht zulegt. Der größten rechtsextremen Partei steht eine Frau vor und außerdem engagieren sich Frauen allen Alters in radikalen, rechten Bewegungen. Das zeigt Magali Della Sudda in ihrem Buch „Les Nouvelles Femmes de droite“ (dt. Die neuen rechten Frauen) sehr gut, das wir gerade veröffentlicht haben. Die Rolle rückwärts ist bereits da; in der Dauerpräsenz rechter Parolen in den Medien und durch eine Monopolisierung. Ein Großteil der Medien ist in der Hand eines Mannes, der behauptet einen zivilisatorischen Krieg zu führen.

 

R.S.: Wie sehen Sie Ihre Rolle als Herausgeberin in den verschiedenen feministischen Kämpfen?

 M.H.: In meinen Augen besteht die Rolle eines Verlegers oder einer Verlegerin darin, unter den ganzen Denkansätzen, Ideen, Konzepten und Erzählungen eine Auswahl zu treffen. Damit also den Leuten Zeit und Energie zu ersparen und sie zu Büchern zu führen, die ihnen wirklich etwas bringen. Im großen Kontext heißt das, jene, die sich engagieren, die kämpfen wollen - und nicht nur feministische Kämpfe übrigens -  Worte, Ideen, Hoffnung mitzugeben und sie dazu zu bringen, sich auch selbst zu hinterfragen. 

 

R.S.: Welchen Veröffentlichungen, welchen Initiativen oder Podcasts sollten wir besonders Beachtung schenken, haben Sie Empfehlungen?

M.H.: Unter den Büchern, die mich in der letzten Zeit am meisten beeinflusst haben, kann ich « La Puissance des mères » (dt. Die Kraft der Mütter) von Fatima Ouassak zitieren, in dem die Figur der Mutter als politisches Sujet beleuchtet wird, und aus der Feder von Dorothée Dussy „ Le Berceau des dominations -  Anthropologie de l'inceste" (Die Wiege der Herrschaft – Anthropologie der Inzest), endlich neu herausgegeben. Ein Buch, das zeigt, dass wir nichts erreichen werden, solange wir nicht die Figur des Patriarchen stürzen. Und außerdem eröffnen tolle, feministische Buchhandlungen überall in Frankreich, und das ist eine gute Neuigkeit: neben der « Librairie des femmes » in Paris gibt es zum Beisipel « L'affranchi » in Lille, « Le bonheur des dames » in Toulouse, « la Librairie à soi.e »  in Lyon, « L'inclusive » ...

 

Marie Hermann hat 2019 gemeinsam mit Ingrid Balazard den Verlag « Hors d'atteinte » mitgegründet, der sich als kritisch, unabhängig und feministisch definiert.
Herausgebracht haben sie unter anderem Clara Zetkin, Tassadit Imache, Nina Almberg, Elvire Duvelle-Charles und eine Neuauflage des feministischen Werkes: Notre corps, nous-mêmes.

Double Peine: Dieser Begriff ist erstmals im September 2021 auf Sozialen Medien als #doublepeine erschienen. Er schildert die Erfahrung von Frauen im Polizeirevier bei der Anzeige sexueller Gewalttaten. Doppelte Strafe bedeutet hier: Zuerst werden die Frauen Opfer machistischer/sexueller Gewalt und anschliessend werden sie nicht ernst genommen bei den Schilderungen vor den zuständigen Behörden bzw. erleben durch die Behandlung ein zusätzliches Traumata.